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Viktor Heinz

Foto: Nina Paulsen

Die Postkarte

Auszug aus dem unveröffentlichten Kurzroman „Als ich gestorben war …“

I

m Treppenflur setzt er die prall gefüllte Einkaufstasche ab und öffnet den Briefkasten. Für gewöhnlich tut er das nur zwei-dreimal in der Woche, um den Kasten von dem verdammten bunten Werbekram zu leeren, der zuweilen wie Blumenbüschel aus dem Schlitz hervorquillt. Der kommt ihm völlig unnütz vor und erregt nur seinen Unwillen. „Normale“ Postsendungen bekommt er immer seltener. In letzter Zeit vielleicht nur drei- oder viermal im Jahr. Mal erinnert sich irgendein Kumpel an seinen Geburtstag, mal wünscht man ihm frohe Weihnachten und ein glückliches neues Jahr. Meist aber wird man einfach angerufen und mit vergnüglichem Blabla gebauchpinselt.
Als er aber in den Briefkasten hineinguckt, staunt er nicht wenig. Kein unnützer Papierkram. Nur eine einsame Postkarte im Hintergrund. In der dunkelsten Ecke liegt sie. Er hätte sie beinah übersehen. Die Postkarte ist so klein und leicht, dass sie wohl beim Einwerfen ganz an die Hinterwand des Kastens gesegelt ist. Eine scheue junge Schwalbe, aus Versehen in ein fremdes Nest geraten, hat sie sich in einem verborgenen Winkel verkrochen, Gefahr witternd und den Atem anhaltend.
Ernst Wagner langt in den Briefkasten und hat plötzlich das Gefühl, Flügelschläge und ein wildes Herzklopfen eines kleinen Vogels zu spüren. Ein leises Piepsen und ängstliches Flattern. Als er die Karte hervorbringt, gleitet sie ihm aus der Hand. Die Schwalbe flattert auf den Fußboden und versteckt sich wieder in einem verborgenen Winkel, ganz hinten an der Scheuerleiste.
Er bückt sich und spürt einen jähen Stich im Kreuz. Au-a-a! Verdammtes Alter! Nicht mal bücken kann man sich. Er geht in die Hocke. Seine Knie knacken. Er greift nach dem Viereck. Kaum haben seine Finger den Boden erreicht, schon springt die Karte auf und landet in seiner Hand. Vogel und Hand haben sich endlich verstanden. Hand und Vogel haben zusammengefunden.

Aber was soll das alles? Allein die Postkarte ist schon ein Rätsel für ihn. Wer schickt ihm heute noch Postkarten. Wer will schon was von ihm. Ein Schauspieler im Ruhestand ist wie ein alter Hund, der zu nichts mehr taugt und mit dem man am besten nichts mehr zu tun haben möchte. Ein mittelmäßiger Schauspieler, korrigiert er sich, kein Star.
Wagner versucht beim Treppensteigen zum ersten Stock hinauf mit brennender Neugier die Karte zu lesen. Er hat die Lesebrille nicht dabei und muss das Blättchen weit von sich weg halten, um die krakelige Handschrift zu entziffern. So einfach ist es trotzdem nicht. Er muss die Augen derart anstrengen, dass sie schmerzen. Die Postkarte in seiner Rechten haltend, greift er mit der Linken mal nach dem Geländer, um nicht ins Straucheln zu kommen, mal nach seinem Kreuz, das in diesem aufregenden Augenblick auch nicht unbeteiligt bleiben will.
Über dem kurzen Text steht in größeren Buchstaben: Lieber Ernst! Was darunter mit eiliger Hand in kleinen Buchstaben hingekritzelt ist, kann er beim besten Willen nicht entziffern. Die Wörter schieben sich übereinander wie bei einem Puzzlespiel. Die Buchstaben huschen hin und her und spielen Versteck. Ganz unten gelingt es ihm aber mit großer Mühe den Namen des Absenders zu entziffern: Peter Bade in Blockschrift.
Voller Neugier hält er in seinem mühseligen Treppensteigen inne und überlegt fieberhaft. Wer ist dieser Peter Bade? Woher kennt er meine Adresse? Ach ja, die kann man doch wohl in einem beliebigen Telefonbuch finden. Hab ich aber einen „Bade“ gekannt? Na sicherlich, ich hab einen Bade gekannt. Hat er Peter geheißen? Na klar, er hat Peter geheißen. Und dieser Peter Bade war mal ein dicker Freund von mir. Aber das war damals, vor vielen Jahren. Und es war drüben in dem anderen Land, das mir jetzt so fern vorkommt wie eine andere Galaxie. Moment aber, das darf doch gar nicht wahr sein. Es kann doch nicht dieser Peter Bade sein. Der ist doch schon längst nicht mehr da. Der ist doch... längst gestorben. Aber wer könnte es sonst noch sein? Hab ich einen anderen Peter Bade gekannt? Nicht dass ich wüsste. Sicherlich nicht. Ich hab nur einen Peter Bade gekannt. Mit dem ich damals meinen Wehrdienst abgeleistet habe. Im Fernen Osten war’s. Ganz hart an der chinesischen Grenze. Irgendwie haben wir uns zusammengefunden. Irgendwie haben wir uns befreundet. Irgendwie wollten wir beide etwas erreichen, etwas werden. Ich war bereit, mich links zu machen, um Schauspieler zu werden. Peter Bade wollte unbedingt den Bildhauerberuf erlernen. Beide waren wir wie besessen. Beide hatten wir uns geschworen, dass wir unser Ziel erreichen werden.
Und das geschah alles in der ersten Woche unserer Bekanntschaft. Wir waren unterwegs. Wir waren fast eine ganze Woche unterwegs zu unserem Truppenteil, der irgendwo in der Nähe von Blagoweschtschensk stationiert war. Im Abteil eines Zuges, der sich raupenartig über die unendliche Strecke der Transsibirischen Eisenbahn dahin quälte. Wir hatten Zeit genug für unsere Gespräche und unsere Träume. Und die Träume waren meist hell und ehrgeizig. Aber in meinem Gedächtnis ist ein gruseliges Bild aus jenen Tagen bis heute noch hängengeblieben, das sich nicht auslöschen lässt. Ich habe Peter Bade schon damals eines Nachts in totem Zustand gesehen. Ich sah ihn in einem offenen Sarg liegen, der sonderbarerweise nicht wagerecht, sondern senkrecht vor mir her geschoben wurde. Ich hab mich so erschreckt, dass ich erwachte. Wir schliefen auf den oberen, sich gegenüberliegenden Liegebänken. Über uns brannte ein trübes Lämpchen. Ich habe schon seit längerem gemerkt, dass sich meine Lider im Schlaf nicht völlig schließen, so dass ich bei Licht manchmal Bilder sehe, die einem Albtraum gleichen. Der Hohlraum zwischen der oberen Liegebank und der Gepäcknische darüber kam mir plötzlich wie ein düsterer Sarg vor, in dem mein Reisegefährte friedlich ruhte. Als ich am Morgen Peter von meinem Traum erzählte, sagte er nur: „Donnerledder! Bist du ein Hellseher? Kannst du mir meine Zukunft prophezeien?“ Weiter nichts. Und dabei blieb es auch. Und später, als er erkrankt war, kam mir dieser Traum immer wieder in den Sinn. Und auch jetzt hat mich die schaurige Geschichte wieder eingeholt.

Es war eine heimtückische Krankheit, er wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte waren ratlos. Keine ausgeprägten Symptome, die auf etwas Genaues hätten hinweisen können. Nur sich periodisch wiederholende Ohnmachtsanfälle, die kein Ende nehmen wollten. Und weil er im Fieberwahn allerlei Dinge zusammengeredet hatte, die den Hoheiten des Landes nicht in den Kram passten, wurde er zunächst mal zur Sicherheit in eine Irrenanstalt gesteckt. Später stellte sich heraus, dass er einen Tumor hatte. Einen Tumor im Gehirn. Entsetzlich war das. Als die Ärzte das dann doch noch feststellen konnten, versuchten sie, Unmögliches möglich zu machen. Vergebens. OP. Intensivstation... letaler Ausgang, hieß es.
Wieso sollte nun dieser Peter Bade plötzlich hier sein, wo ich doch selbst gesehen habe, wie er nach einer misslungenen Operation auf einer Totenbahre aus der Intensivstation weggebracht wurde? Glatter Wahnsinn! Natürlich ist das ein anderer Peter Bade. Ein Namensbruder oder so. Mein Freund Peter Bade ist vor ... Moment mal ... vor knapp zwanzig Jahren gestorben.

Wagner steckt den Schlüssel ins Schlüsselloch und hört im Knacken des Schlüssels das Wort Pe-ter. Er dreht den Schlüssel um und hört im leichten Rasseln Pe-ter Ba-de. Er öffnet die Tür und hört im leisen Geigen Pe-ter Ba-de. Ich werd verrückt!
Er tritt wankend in den Flur und ruft, völlig durcheinander, in die Wohnung hinein:
„Elfriede, Elfriede, bring mir doch mal hurtig meine Brille!“
„Wo brennt’s denn, um Gottes Willen“, echot die Stimme seiner Tochter aus der Küche. Sie eilt, so gut es geht, mit schlurfenden Schritten ins Wohnzimmer, bringt ihm die Brille und erschrickt: sein Gesicht ist fahlgrau, sein weißer Schnauzer zuckt. Sein Haar sieht aus wie ein vom Sturmwind zerzauster Heuschober.
„Die liebe Zeit, was is’n mit dir?“
„Hast du... haben wir einen Peter Bade gekannt“, fragt er mit zitternder Stimme.
„Na gewiss, gekennt hummer den schun, awer der is doch schun längst gestorwe. Grad wie mr ausgereist sin... Awer des misst du doch besser wisse. Ihr wart doch Kumrade, viele Johr lang...“
Während Elfriede redet, hört Wagner überhaupt nicht zu. Er setzt die Brille auf, starrt mit verbissener Konzentriertheit auf die Postkarte und sagt dann wie geistesabwesend:
„Ja, das weiß ich. Aber hör doch mal zu, was da geschrieben steht“:

„Lieber Ernst,
ganz zufällig bin ich auf deine Adresse gestoßen. Endlich habe ich dich wieder gefunden. Ist das nicht merkwürdig, dass wir wieder in eine und dieselbe Stadt gekommen sind. Wie geht’s dir, alter Kumpel? Es würde mich sehr freuen, wenn Du in meine Werkstatt kämst, ich möchte Dir meine neue Skulptur zeigen, denn ich habe schon immer Deine Meinung geschätzt. Wenn’s dir recht ist, am 8. Juni, um 12 Uhr. Adresse: Waldweg 6.
                                                                                Peter Bade“.

Schon morgen? Um zwölf? Wagners Hand fällt zusammen mit der Postkarte schlaff herab. Ratlosigkeit im Gesicht.
Quatsch alles! Glatter Wahnsinn! Oder doch nicht! Unsinn ... er ist doch gestorben... ge-stor-ben! Oder doch nicht? Oder doch? Nein, mir steht der Verstand still. Peter? Ja, Peter hat er geheißen. Bade war sein Nachnahme, stimmt doch alles. Aber dieser Peter Bade ist doch zum Teufel noch mal … Nicht zu fassen. Er macht eine theatralische Geste, wie er es auf der Bühne gewohnt war, wenn er die Rolle eines verzweifelten Helden gespielt hatte. Eine Geste der Ausweglosigkeit …
Einige Minuten später gelingt es ihm doch sich zusammenzunehmen.
„Unglaublich. Aber ich geh doch mal hin. Kommst du mit?“
Elfriede stutzt:
„Mitkomme zu aam verstorwene Mensch? Ich waaß net. Däs kommt mir alles ganz närrisch vor... Geh schun allaa. Host wohl gar nichts eingekauft? Wo ist die Einkaufstasche?“
Ach ja, die hat er unten stehen lassen. So vergesslich schon... Er dreht sich verwirrt um und fasst die Türklinke.
„Geh schon rein! Ich hol sie selwer ...“

Er geht ins Badezimmer, blickt in den Spiegel und zuckt zusammen. Ist das er, der Schauspieler, der ehemals trotz mancher Patzer doch immer wieder Flagge gezeigt hat. Der trotzdem im Schauspielhaus das Publikum oft zum Aufwallen gebracht hat? Schlohweißes Haar, ebenso der Schnauzer, sein ehemaliger Stolz. Fahlgrau das Gesicht... Auch die Ohren kommen ihm irgendwie verschrumpelt vor. In den Augenwinkeln kichern ihn feine Krähenfüße an. Um Gottes willen, der wird mich doch gar nicht erkennen, angenommen es gibt ihn überhaupt. Ach was. Vielleicht ist alles nur ein Missverständnis. Oder will mir jemand einen Streich spielen. Ein schöner Streich übrigens! Aber ich geh natürlich hin. Auf jeden Fall. Ich muss mir Klarheit verschaffen. Die Straße kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich werde mich mit Hilfe des Stadtplans schon zurechtfinden.